„Dem Menschen wohnt ein Logos inne, der von sich aus wächst“
Heraklid, 5. Jhd. v Chr.
Rudolf Steiner (1861-1925), der Begründer der Anthroposophie, hat in seinem Lebenswerk den anthroposophischen Schulungsweg sehr umfassend dargestellt. Schon in seinem frühen Werk „Die Philosophie der Freiheit“ (1891) hat er einen Weg zur Verwandlung des Denkens skizziert. Weitere Schilderungen in anderen Schriften, vor allem in „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten“ (1904) und in „Die Geheimwissenschaft im Umriss“ (1910) betonen andere Aspekte des Weges. Es war durchaus ein Verdienst von Georg Kühlewind, aus Steiners Werk die Kernelemente dieses Schulungsweges so zu extrahieren, dass sie in einer für uns leichter fasslichen und für die Gegenwart geeigneten Form vorliegen.
Steiner beschreibt den anthroposophischen Schulungsweg als einen Weg des modernen Menschen; er sieht darin die zeitgemäße Form, einen Zugang zu neuen Erfahrungsbereichen zu suchen, zur „Geistigen Welt“, wie er sie nennt. Dies impliziert, dass es früher andere Wege gegeben haben muss, die diesen Zugang auch, aber anders versucht haben und die für die jeweilige Zeit und Kultur passend waren. Wie heute, gab es nach Steiner auch in früheren Zeiten gleichzeitig verschiedene spirituelle Wege, die sich nicht gegenseitig ausschlossen sondern ergänzten. Dennoch hat jede Kultur ihre Signatur, der auch die für sie passenden Schulungs- oder Einweihungswege entsprechen sollten.
Charakteristisch für den heutigen Weg ist, dass er unterschiedslos für jeden Menschen offen ist und auch keine besonderen Fähigkeiten voraussetzt. Er ist frei und selbstbestimmt; daher ist die Führung durch einen Meister oder Guru heute nicht mehr zeitgemäß. Alle Elemente des Weges sind nüchtern nachvollziehbar, es gibt keine Glaubenssätze, Dogmen oder Gelübde, zu denen man sich bekennen muss. Der heutige Weg ist kompatibel mit dem aufgeklärten wissenschaftlichen Denken.
Dennoch ist es nicht leicht, diesen Weg zu gehen. Unser Bildungssystem ist ganz darauf abgestimmt, Wissen zu vermitteln und Fähigkeiten so zu trainieren, dass sie den gesellschaftlichen Anforderungen möglichst gut entsprechen – und das läuft gegenwärtig in erster Linie darauf hinaus, wirtschaftstauglich zu werden und damit zur Stärkung des Konsumverhaltens beizutragen. Übliches Lernen heißt, mentale Fähigkeiten so einzusetzen, wie sie schon da sind, wenn wir beginnen, etwas zu lernen. Das Lernen selbst stärkt dann nur diese schon vorhandenen Fähigkeiten, aber verändert sie nicht in ihrer Qualität. Übungen wie die hier gemeinten verlangen aber ein aktives und „überflüssiges“ Tun, das keinem offensichtlichen Zweck dient. Derartiges hat in unserem gesellschaftlichen Kontext keine gute Reputation.
Der Übungsweg geht in eine ganz andere Richtung und schöpft aus Quellen der Kreativität, die dabei helfen können, Bewusstseinskräfte zu verwandeln. Dass dies grundsätzlich möglich ist, sieht man schon daran, dass in der frühen Kindheit einige „Wunder“ geschehen, die wohl kaum zustande kommen könnten, wenn schon das kleine Kind ausschließlich so lernen würde, wie wir es aus dem späteren Leben kennen. Wie sollte es sonst z.B. in der Lage sein, sich innerhalb kurzer Zeit aus der stabilen Lage des Liegens oder Krabbelns in die extrem instabile Vertikale aufzurichten oder die Muttersprache zu erlernen, obwohl es zunächst keine Worte kennt, mit denen man ihm weitere erklären könnte. Auch die Sprachwissenschaft nimmt heute eine Art von Intuition an als ein wesentliches Element beim Spracherwerb des Kleinkindes (s. z.B. Paul Ibbotson, Michael Tomasello „Linguistik, ein neues Bild der Sprache“ in: Spektrum der Wissenschaft, 3/2017, S. 12).
Die Übungen gliedern sich in einen Teil, der sich mit dem Denken, dem Vorstellen und Imaginieren befasst und einen zweiten, der die Sinneswahrnehmung zum Hauptgegenstand hat. Die individuell ausgewählten Übungen werden ein- oder mehrmals täglich während einer nicht zu langen Zeitspanne sehr konzentriert durchgeführt. Ergänzend können weitere Übungen hinzukommen, die in das Tagesgeschehen einfließen und somit nicht auf bestimmte Zeiten begrenzt sind. Dies sind die von Steiner angegebenen Nebenübungen und die aus dem Buddhismus stammenden Übungen des achtgliedrigen Pfads.
Der Grundcharakter aller Übungen ist, dass sie immer von den hellsten Elementen im Bewusstsein ausgehen, also von dem, was der bewusst lenkbaren Aufmerksamkeit unmittelbar am nächsten ist. Das sind gerade solche Fähigkeiten, die vom Menschen ständig angewendet werden, dabei aber meist unbemerkt bleiben; der Grund dafür ist, dass sie zu „nah“ sind um aufzufallen. Wir bemerken normalerweise den Akt des Denkens nicht, sondern sind ausschließlich mit dessen Ergebnissen beschäftigt. Ebenso bleibt meist das Wahrnehmen selbst unbemerkt und nur was wir wahrnehmen, wird bewusst. Die Übungen zielen darauf hin, auch die den Ergebnissen vorangehenden Prozesse nach und nach aufzuhellen. Ein erstes Ergebnis kann sein, überhaupt auf diese Prozesse aufmerksam zu werden und zu bemerken, dass es sie gibt. Schon diese Erfahrung ist sehr subtil und neigt dazu, zu zerfließen. Aber das zeigt auch einen generellen Charakter der Übungen, die darauf angelegt sind, das sachbezogene, wissensorientierte Denken und das konstatierende, kategorisierende Wahrnehmen so zu beleben, dass das Denken „flüssiger“, beweglicher, reiner und das Wahrnehmen „satter“ und qualitätsvoller wird.
Dies zeigt schon, dass die Übungen die Qualität unserer Fähigkeiten ändern wollen und nicht den weiteren Ausbau des schon Vorhandenen bezwecken. Was dann zunächst sehr sachte anklingt, sind Erfahrungen, die in ihrer Qualität mehr Bezug zu Kunsterlebnissen oder zu Erinnerungen aus der frühen Kindheit haben als zu der versachlichten Welt des Erwachsenen.
Alle Übungen sind reine Bewusstseinsübungen; körperbezogene Übungen (wie z.B. im Yoga) spielen keine Rolle, nicht einmal die Körperhaltung; sie ergibt sich von selbst, wenn die Übungen eine gewisse Intensität erlangen. Der Grund dafür ist, dass sich selbst unser Körper (auch die Atmung) im Vergleich zu den erwähnten hellen Bewusstseinselementen wie ein Objekt ausnimmt, auf das sich die Aufmerksamkeit in ganz alltäglicher Weise richten kann. Die Übungen haben aber gerade eine Änderung der Bewusstseinsqualität zum Ziel, wie sie sich in der Konzentration auf die „nahen“ Elemente ergeben kann. Das Bewusstsein sollte sich so allmählich von seiner normalerweise vorwiegend objektbezogenen zu einer mehr prozessualen Erfahrungsweise entwickeln können.
Ein weiteres Merkmal der Übungen ist leider, dass sie oft sehr anstrengend und wenig „erbaulich“ sind. Man könnte sie mit Fingerübungen auf dem Klavier vergleichen, die ebenfalls nicht erbaulich sind. Wer Klavier spielt, weiß aber, dass auch Fingerübungen durchaus „Spaß“ machen können. Man erlebt, wie durch Ausdauer und Fleiß im Laufe der Zeit Fähigkeiten reifen, die sich sonst nie entwickelt hätten. Es gibt aber auch eine ganz unmittelbare Freude am Üben, die gar keine Erfolge braucht: einfach spielen und sich freuen, dass sich die Finger bewegen. Etwas Entsprechendes kann im günstigen Fall auch bei den angesprochenen Übungen der Fall sein. Möglich und wahrscheinlich ist jedoch, dass sich diese Freude nicht immer einstellt. Nicht selten wird man erleben, dass es einer großen Überwindung bedarf, die Übungen überhaupt zu beginnen und dass es auch im Verlauf der Übung selbst immer wieder zu erheblichen Ablenkungen und Störungen kommt, die es zeitweise sehr schwer machen, bei der Sache zu bleiben; alles, was sich als Ablenkung „einschmuggelt“, wirkt dann ungleich interessanter als der Übungsgegenstand, der bewusst uninteressant gewählt sein soll.
Das konfrontiert jeden, der sich mit dem Thema Üben beschäftigt, mit einer sehr wesentlichen Frage, die den Dreh- und Angelpunkt der weiteren Betätigung darstellt: warum soll ich üben?
Glücklicherweise gibt es keinen Grund dafür! Gäbe es einen Grund, so wäre das Bemühen um die Übungen nicht frei. Aber die Bewusstseinsebene, die durch diese Übungen angesprochen wird, kann sich nur in „freier Luft“ entwickeln; denn sie basiert auf der Betätigung der freien, bewusst geführten Aufmerksamkeit. Ein versprochener Nutzen wäre ein Hindernis, das diese Betätigung nur erschwert.
Es ist bestürzend zu erleben, wie stark der Drang ist, immer wieder in eine Richtung ausweichen zu wollen, die bequemer ist. Immer wieder möchte man die Anstrengung vermeiden und etwas „Schöneres“ erleben, was irgendwie gut tut. Das scheint unserer heutigen Lebensart besser zu entsprechen und ist so gesehen ein verständliches Anliegen. Aber andere, durchaus auch anstrengende Bemühungen wie z.B. das Lesen vieler (auch spiritueller Bücher) können kein Ersatz für die Übungen sein; es ist dann, als wollte man Gold durch eine große Menge Silber kompensieren – ein unmögliches Unterfangen!
Wer sich also entscheidet, die Übungen weiter zu machen, tut dies aus ureigenem Antrieb. Dann wird er aber auch empfinden, wie etwas im eigenen Wesen in Resonanz kommt, das bisher nur wenig Beachtung fand. Dafür wirken die Übungen wie Nahrung, die ein gesundes und sehnlich erwartetes Wachstum ermöglicht.
Doch diese Entwicklungsmöglichkeit hängt einzig und allein von meiner eigenen Initiative ab und kann durch nichts anderes in der Welt für mich erledigt werden. Es obliegt meiner Verantwortung, etwas dafür zu tun.