Interview mit Rolf Henrich

Rolf Henrich im Gespräch mit Georg Kühlewind (6.7.2004), aus info3

Individualist mit Leib und Seele

Er gehört zu den wenigen echten „Lehrern“ der Anthroposophie: Georg Szekely-Kühlewind wirkt seit über 30 Jahren mit Vorträgen, Seminaren und Büchern für eine erkennende und meditative Erschließung der Impulse Rudolf Steiners. Im Gespräch mit dem ehemaligen DDR-Bürgerrechtler und Buchautor Rolf Henrich, der ihn bei einem Seminar in Brandenburg traf, erzählt Kühlewind über wichtige Weichenstellungen seines Lebens und die Rolle der Aufmerksamkeit als wichtigster geistiger Fähigkeit.

Georg, du hast einmal einschränkend gesagt: „Was wir wissen über unseren Lebensweg, ist nur ein Zeichen, hinter dem eine Bedeutung liegt.“ Und die Aufgabe einer echten Karmaforschung könnte es sein, herauszufinden, was hinter einem Lebenslauf steht. Mir geht es mit meinen Fragen erst einmal nur um die „Zeichen“, also um die familiären, die geistig-kulturellen und beruflichen Start- und Rahmenbedingungen, die sich in Deiner Biografie niedergeschlagen haben.

Dann mal los. Ich bin am 6. März 1924 in Budapest geboren worden. Mein Vater war ein bekannter Kinderarzt, der wegen seiner diagnostischen Fähigkeiten, man konnte bei ihm wirklich von fühlendem Erkennen sprechen, in ganz Ungarn sehr geschätzt wurde. Zwei Brüder meines Vaters waren übrigens, so wie du, als Rechtsanwälte tätig. Meine Mutter war eine musisch veranlagte Frau. Sie spielte sehr gut Geige und las bis ins hohe Alter schöngeistige Literatur in drei Sprachen. Der Großvater mütterlicherseits hatte eine Möbelfabrik, der Großvater väterlicherseits war Bauer.

 

Du sprichst perfekt die deutsche Sprache, kennst Dich in der deutschen Kulturlandschaft aus wie kein Zweiter. Woher kommen die Impulse dazu?

Ich hatte ab dem dritten Lebensjahr eine österreichische Gouvernante, die mit mir nur deutsch gesprochen hat. Die konnte gar kein Ungarisch. Und die deutsche Literatur und Musik spielten in meinem Elternhaus, so lange ich zurückdenken kann, immer eine herausragende Rolle. In der Bibliothek meines Vaters fand sich eine Unmenge deutschsprachiger Bücher. Gedichte von Rilke, Hölderlin und Goethe, die Bücher Thomas Manns habe ich schon während meiner Schulzeit in deutscher Sprache gelesen. Heute schreibe ich fast alle meine Bücher in deutsch. Ab dem 11. Lebensjahr lernte ich Klavier spielen. Schubert, Bach, Schumann, Beethoven – damit bin ich aufgewachsen. Mit 19 hatte ich sogar überlegt, ob ich Pianist werde. Begegnungen, Freundschaften mit Musikern haben mein Leben bis heute geprägt.

 

Musik spielt in deinem Leben ja eine riesige Rolle. Es fällt auf, dass Du fast jedes Deiner Seminare mit einem kleinen, aber feinen Klavier-Konzertprogramm kombinierst.

Ja, ja! Das Musik fühlen, das ästhetische Fühlen überhaupt können wir von seiner Bedeutung her für die Entwicklung menschlicher Fähigkeiten heutzutage gar nicht hoch genug veranschlagen. Ich betone das immer wieder. Die von mir ausgearbeitete Aufmerksamkeitsschulung geht, etwas vereinfacht ausgedrückt, einen ähnlichen Weg wie die Kunsterziehung: Sie bemüht sich, das erkennende Fühlen im Wahrnehmen zu wecken. Schon für Steiner war das künstlerische Empfinden bekanntlich eine große Hilfe, „die beste Vorbedingung für die Entwicklung der geistigen Fähigkeiten“. Übrigens hatte ich das Glück, noch Bela Bartok kennen zu lernen. Er repräsentiert für mich die „Musik der Bewusstseinsseele“. Meine Klavierlehrerin war eine Schülerin von ihm. Bartok empfing wöchentlich einmal ein halbes Dutzend Schüler. Die durften manchmal Freunde mitbringen. Auf die Weise war ich drei oder vier Mal in seiner Wohnung zu Gast.

 

Ich würde doch noch einmal gerne auf Deinen persönlichen Lebensweg zurückkommen. Welche Literatur hat Dich neben der bereits genannten schöngeistigen Literatur beeinflusst? Gab es Persönlichkeiten, die für Dich in der Jugend zum Vorbild wurden?

 Mit 16 begeisterte ich mich für die Psychoanalyse. Den ungarischen Analytiker Hollos Istvan habe ich noch persönlich kennen gelernt. Die Werke von Freud und C. G. Jung habe ich verschlungen. Sie überzeugten mich, dass das Leben „rational“ nicht zu verstehen war. Damals ist mir klar geworden, dass die Probleme des Einzelnen ebenso wie die der Gesellschaft primär Bewusstseinsprobleme sind. Als 17-jähriger Gymnasiast bin ich dann dem weltberühmten Kultur- und Religionswissenschaftler Karl Kerenyi begegnet. Er war mein erster Meister! Auch im Persönlichen war er großartig, sehr humorvoll, voller Witz. Es ist so viel in mir, was ich von ihm gelernt habe.

 

Ob Du es glaubst oder nicht, aber ich hatte erst in der vergangenen Woche sein Buch Die Mythologie der Griechen in der Hand, weil ich mich über die Göttin Tyche belesen wollte…

 …die Schicksalsgöttin? Kerenyi sagt, ihr eigentlicher Name sollte besser mit „Wie es sich trifft“ oder „die Chance“ wiedergegeben werden. Für Kerenyi war die Mythologie der Griechen eine Wirklichkeit so wie für uns das Wetter. Und das konnte er einem glaubwürdig vermitteln. Er hat mich angesteckt. Ein ungeheuer guter Redner, ja, und ein Dichter dazu, was leider kein Mensch mehr weiß. Er konnte dadurch, dass er an der richtigen Stelle eine Pause machte, mehr zum Ausdruck bringen als andere mit einem ganzen Vortrag. Ich muss sagen, ohne ihn wäre es mir heute kaum möglich, das zu tun, was ich tue. Ich kannte auch eine Tochter von ihm etwas näher. Sie war eine großartige Dichterin und im Widerstand gegen die Nazis engagiert. Sie wurde in ein Konzentrationslager eingesperrt, kam krank zurück. Für Kerenyi war es die größte Enttäuschung in seinem Leben, dass mit ihm befreundete deutsche Philologen, die er um Hilfe gebeten hatte, ihn plötzlich nicht mehr kennen wollten.

 

Die hatten die Hosen voll!

Ja, das kann man wohl sagen. Dennoch wundere ich mich nicht darüber. Wer so wie ich in zwei Diktaturen gelebt hat, der wird Menschen wie diese Philologen nicht vorschnell verurteilen. Ich bin da im Laufe meines Lebens sehr zurückhaltend geworden. Die Erkrankung des Denkens, ich habe es schon oft gesagt, beraubt die Seele der Möglichkeit, ihre Lage richtig zu durchschauen. Die Denkungsart dieser Leute konnte mit einer Freiheitsidee nicht im Einklang sein, weil ihnen eben diese Idee fehlte, die Idee des Ich. Selbst ein Philosoph wie Heidegger zeigt uns – wie sein Rektorat 1933 beweist -, dass das Fundament seiner Weltanschauung – mindestens zeitweilig muss es so gewesen sein – nicht ein klares Logosdenken war. Logosdenken heißt für mich, dass man das Denken ohne Gedachtes erfahren hat, eigentlich als eine formfreie Kraft. Kerenyi jedenfalls war von diesen Leuten total enttäuscht. Er ist dann 1943 in die Schweiz emigriert, wo er 1944 als Gastprofessor in Basel und ab 1948 Forschungsleiter am C. G. Jung-Institut war.

 

Georg, Du schilderst, wer Dich als Mensch beeinflusst hat und durch welche Literatur Du gebildet wurdest. Hat eigentlich die Religion bei Euch zu Hause eine Rolle gespielt?

Absolut nicht.

Überhaupt nicht?

 Nein! Mein Vater war Kinderarzt und das war seine „Religion“ – fertig. Dass ich Jude war, ist mir erst während meiner Schulzeit richtig klar gemacht worden. Irgendwann sagte mein Vater zu mir, ich sollte, wenn da Religionsstunde ist, mit denjenigen gehen, die Israeliten sind. Ich hatte keine blasse Ahnung. Wieso das? Warum? Nur zu meiner Orientierung hatte er das gesagt, damit ich nicht mit den Katholiken oder Protestanten mitliefe. Gehe du mit den Israeliten, meinte er. Das war alles. Mein Vater war der gütigste Mensch, dem ich jemals begegnet bin. Er verkörperte die höchste Moralität für mich, die aber total unabhängig von jeglicher Religion war. – Übrigens hat mich meine Frau erst neulich wieder daran erinnert, dass sich unser erstes Gespräch, welches wir geführt haben, um Gott drehte. Da war ich 16 und sie 13. Meine Frau war religiös. Und ich wollte ihr unbedingt „beweisen“, dass Gott nicht existiert. Es war mir sehr wichtig!

 

Du bist dann 1944 von den Deutschen in ein Lager verschleppt worden. Wie ist es dazu gekommen?

 Na ja, man hatte mich Mitte Mai 1944 zum Arbeitsdienst zwangsverpflichtet. Als dann die Rote Armee näher rückte, sollten wir mit unserer Arbeitskolonne auf die linke Seite der Donau wechseln. Das war im Oktober, als Ungarn nicht mehr an der Seite von Deutschland den Krieg weiterführen wollte. Horthy hatte die Deutschen gestürzt und die Pfeilkreuzler waren an die Macht gekommen. Das war wirklich der Abschaum. Ich bin dann geflohen; habe mich erst im Wald und später bei Freunden versteckt gehalten. Allerdings handelte es sich dabei um ein Haus, welches durch einen gelben Stern gekennzeichnet war. Sie haben uns dann zusammengetrieben. Gemeinsam mit meinem Vater musste ich in einer Arbeitskolonne, die nur aus Ärzten bestand, Panzergräben ausheben. Weiter ging es zu Fuß nach Österreich, von wo aus wir in Eisenbahnwaggons nach Buchenwald ins Konzentrationslager verfrachtet wurden. Ich habe noch ein weiteres Lager in der Nähe von Frankfurt am Main kennen gelernt, bis ich schließlich in Langenstein, ein kleiner Ort in der Nähe von Halberstadt, zur Zwangsarbeit eingesetzt wurde. Wir haben da an Flugzeugen Teile an- und wieder abgebaut.

Ich war als „Fachmann für Höhenruder“ eingesetzt; aber das waren Flieger, die niemals aufgestiegen sind, was jeder wusste. Am 9. April 1945 war morgens die SS-Wachmannschaft weg. Das war eine Überraschung – einfach abgehauen waren die Kerle! Nach ein paar Tagen kamen die Amerikaner. Es sind aber auch nach der Befreiung noch viele Menschen gestorben – an Typhus und weil sie plötzlich zu viel und unkontrolliert gegessen haben. Mein Vater hatte mich davon abgehalten, weil er wusste, wie gefährlich das ist.

 

Du hast Schreckliches erlebt, Georg. Hat das Deine Einstellung zu Deutschland, den Deutschen, der deutschen Kultur nach 1945 irgendwie verändert?

Nein! Absolut nicht. Ich kann so etwas überhaupt nicht denken wie die Deutschen, die Juden oder die Schweizer. Was soll das? Es gibt ja auch nicht die Kinder, es gibt nur den Hans und die Susanne. Ich bin mit Leib und Seele schon in jungen Jahren viel zu sehr Individualist gewesen, so dass ich gar nicht erst in die Versuchung gekommen bin, mich in Rachegefühlen gegen die Deutschen zu ergehen. Für mich und auch meinen Vater hatte der Nationalsozialismus nichts mit der deutschen Kultur oder dem Deutschtum zu tun. Übrigens hatte ich unmittelbar nach meiner Befreiung aus dem Lager in Langenstein gewissermaßen eine zweite Begegnung mit der Anthroposophie.

 

Danach wollte ich Dich sowieso fragen. Wie bist Du eigentlich zur Anthroposophie gekommen?

 Der Anthroposophie begegnete ich erstmals 1942 bei uns in Budapest. Eine Freundin meiner Frau hat uns damals zu einem Vortrag von Maria von Nagy, die die Anthroposophie nach Ungarn brachte, mitgenommen.

Es hat uns zwar sehr gefallen, was wir da gehört hatten, aber als Kerenyi-Schüler habe ich so bei mir gedacht: Das ist nichts Neues für mich, das kenne ich schon – es lebt in mir. Und Kerenyi war natürlich ein ganz anderes Kaliber. Und so hatte ich dann bis zu meiner Befreiung durch die Amerikaner keinerlei Berührung mehr mit der Anthroposophie. Ich sagte ja bereits, dass ich in Langenstein inhaftiert war. Ich bin dann nach Halberstadt gewandert, es gab keinen Zug, nichts. In Halberstadt habe ich mich mit einem aus Breslau geflohenen deutschen Medizinstudenten angefreundet. Wir haben uns gut verstanden. Dem hatte ich gesagt, dass ich mal wieder was lesen möchte. Er hatte mir gesagt, dass dort, wo er in Halberstadt wohnte, eine Kiste voller Bücher auf dem Dachboden herumstand. Und weißt du, welches Buch er mir brachte? Rudolf Steiners Buch Goethes Weltanschauung! Das habe ich sofort gelesen. Na ja, ich hatte schon Besseres gelesen. Jahre danach lernte ich in Dornach Dr. Heinrich Leiste kennen, dem ich diese Episode erzählte. Er war der festen Überzeugung, dass das Steiner-Buch von seinem Lehrer gewesen sei, weil da weit und breit kein anderer Steiner-Leser war.

 

Und wie kam es zu Deiner Hinwendung zur Anthroposophie?

Daran war wieder die bereits erwähnte Freundin meiner Frau schuld. Sie ließ mich, nachdem ich nach Budapest zurückgekehrt war, nicht mehr in Ruhe. Steiner, Steiner, Steiner… „Was du sagst, ist genau das, was auch Steiner sagt“, behauptete sie immer wieder. Sie ging mir wirklich mit Steiner auf die Nerven. Bis ich sie schließlich doch gebeten habe, mir mal ein Buch von diesem Steiner auszuleihen. Sie drückte mir nach ein paar Tagen Wahrheit und Wissenschaft in die Hand. Oh, dachte ich, das ist was. Das war so ziemlich meine eigene Sprache, da waren neue Gedanken. Ich war also angetan davon. Danach war es der Hamburger Zyklus über das Johannes-Evangelium, der mich inspirierte. Ich las dann zehn Jahre lang ein Buch von Steiner nach dem anderen. Bis ich irgendwann das Gefühl hatte: Auf diese Weise kommst du in der „inneren Arbeit“ nicht weiter. Das ist steril. Es hat nicht viel gefehlt, und ich hätte die ganze Anthroposophie über Bord gehen lassen, wenn ich nicht seinerzeit einen mich stark berührenden Traum gehabt hätte. In diesem Traum erinnerte ich mich nämlich an Die Philosophie der Freiheit Rudolf Steiners. Ich wusste, dass ich dieses Buch bisher nicht verstanden hatte. Ich wollte der Anthroposophie eine „letzte Chance“ geben.

Ich las also erneut Die Philosophie der Freiheit und wusste plötzlich genau, welche Richtung ich zukünftig einzuschlagen hatte. Mir wurde bewusst, dass die Ebene wirklichen Verstehens die Sphäre des lebendigen Denkens ist, das heißt, der Prozess ist entscheidend und nicht das fertig Gedachte. Von da an, so ungefähr seit 1958, intensivierte ich allmählich meinen inneren Schulungsweg.

 

In der Zeit, über die wir gerade sprechen, hat doch Georg Lukacs in Budapest eine große Rolle gespielt. Oder? Sein Buch „Geschichte und Klassenbewusstsein“ hat in der 68er Bewegung im Westen, aber auch im Osten eine riesige Bedeutung gehabt. Welche Rolle spielte der damals bei Euch?

In Ungarn herrschten damals die Kommunisten, wie du weißt. Ich hatte Schwierigkeiten damit. Ich ertrage keine Diktatur. Und der Georg Lukacs – der war ein Schweinskerl geworden. Bela Hamvas, ein berühmter Kulturphilosoph – dem wollte er sogar die Polizei auf den Hals hetzen. Ich sage ausdrücklich: geworden! Ich weiß nicht, ob du sein erstes Buch Die Theorie des Romans kennst?

 

Nein, das habe ich nicht gelesen.

 Er hat Die Theorie des Romans geschrieben, da war er ungefähr 24. Ein wunderbarer Text, eines der spirituellsten Bücher, das ich kenne. Er selbst hat sich dann von diesem Werk distanziert und gesagt, es sei im Zustand einer generellen Verzweiflung entstanden und so etwas wie geistige Kosmetik. Auch deshalb sei dort die Gegenwart Fichtisch als Zustand der vollendeten Sündhaftigkeit dargestellt. Angeblich will er erst später die Zukunftsperspektive der Oktoberrevolution richtig verstanden haben. Es ist bei ihm genauso wie bei Marx gelaufen. Erst schreibt der ja auch die Ökonomisch-Philosophischen Manuskripte, um die Entfremdung zu entlarven. Und am Ende wird er zum Theoretiker der „Diktatur des Proletariats“.

1956, als der Ungarn-Aufstand ausbrach, konnte Lukacs ja sehen, was die Menschen wirklich wollten. Was ich niemals erwartet hatte, dass sich nämlich eine große Menschenmasse absolut moralisch verhalten kann, das passierte in jenen Tagen tatsächlich. Es war wie im Märchen. Ich habe gedacht, das gibt es gar nicht. Die Menschen waren eine Woche lang wie ausgewechselt, gewissermaßen „ohne Egoität“. Es wurde nicht geplündert. Für die Familien der Gefangenen wurde z. B. Geld auf der Straße in großen Kisten gesammelt. Das Geld wurde nicht mal bewacht. Keiner hat sich daran vergriffen. Gegenseitige Hilfeleistung war selbstverständlich. Die Freundlichkeit der Menschen untereinander war unvorstellbar. Für mich war das eine beeindruckende Erfahrung. Ich habe daraufhin einen langen Brief an Aldous Huxley geschrieben. Der hatte sich seinerzeit in seinen Essays sehr negativ geäußert im Hinblick auf die Möglichkeiten des Menschengeschlechts.

 

Was würdest Du sagen, was die Menschen da ergriffen hatte? War das etwas Geistiges?

Durchaus – die Idee von Freiheit. Man riecht, man schmeckt sie. Es ging etwa eine Woche lang so.

 

Bevor wir noch auf deinen beruflichen Werdegang zu sprechen kommen, würde mich interessieren, welche Begegnung für Deinen eigenen Schulungsweg nach 1945 die wichtigste war?

1964 traf ich während eines Forschungsaufenthaltes am Physikalisch-Chemischen Institut in Rom auf den italienischen Orientalisten und Philosophen Massimo Scaligero. Ich hatte vier oder fünf Gespräche mit ihm, die für mich zwar wichtig, aber nicht unbedingt „überwältigend“ waren. Er hat mir dann drei seiner Bücher mitgegeben, die ich nach meiner Rückkehr nach Ungarn in Budapest gelesen habe.

Unglaublich, was ich da las. Mein Leben lang hatte ich gesucht. Es war einfach genial, selbstständige, geistige Erfahrung. Ein durchgehend meditativer Text.

Vorbildlich! Ich habe ihm postwendend geschrieben. Es entstand eine hilfreiche und tiefe Freundschaftsbeziehung zwischen uns. Er hat mich geistig stark geprägt. Er wurde mein Lehrer, obwohl es mehr als eine Frage gab, in der unsere Meinungen auseinander gingen.

 

Kannst Du ein Beispiel dafür geben?

Ein Beispiel: Er war der Auffassung, dass das Problem im Sozialen vor allem der Patron ist; der fehlte ihm im Kapitalismus. Er vermisste den Eigentümer, den Patron, der sich wirklich um seine Leute „kümmerte“. Oder: Dann vertrat er fest die platonische Theorie, dass das menschliche Paar, Mann und Frau, gewissermaßen nur die zwei Hälften eines Ganzen sind, die sich im Leben suchen und finden. Also, ich konnte diese Ansichten nicht mit ihm teilen, was aber unserer Freundschaft keinerlei Abbruch getan hat. Für mich ist Scaligero ein hellsichtiger Geistesforscher und ein Sprachkünstler dazu. Seine Texte sind keine Informationen, ein meditativer Satz nach dem anderen. Man muss ihn meditieren, wie ich schon sagte. In allen Gruppen, mit denen ich seit 1965 in Österreich, in der Schweiz, in Deutschland oder in Amerika zusammenarbeite, mache ich die Seminarteilnehmer ausdrücklich auf Massimo Scaligero aufmerksam. Und obwohl der Prolog des Johannes-Evangeliums für mich seit vier Jahrzehnten zur zentralen Meditation geworden ist, übe ich dennoch immer wieder anhand der Sätze Scaligeros.

 

Aber die Begegnung mit dem Zen-Buddhismus hat doch deinen inneren Weg ebenfalls stark beeinflusst? In Deinem Buch „Meditationen über den Zen-Buddhismus, Thomas von Aquin und Anthroposophie“ weist Du den Leser ja selber darauf hin.

Ja, natürlich. Ich bin durchaus der Auffassung, Anthroposophen könnten sehr viel vom klassischen japanischen Zen lernen. Wohingegen ich gegenüber dem Zen des „weißen Mannes“ skeptisch bin. Auf mich wirkte jedenfalls D. T. Suzukis Buch Die Zen-Lehre vom Nichtbewusstsein, das ich schon Ende der 60er Jahre gelesen hatte, wie ein frischer Regen. Meine eigenen Ansichten und Gedanken habe ich in den Lehren der Zen-Meister wieder gefunden, besonders das Betonen des Hier und Jetzt und ihr „natürlicher“ Zugang zur Welt des Geistes. Ich fühlte mich hier, bildlich gesprochen, ganz wie zu Hause. Ich studierte die klassischen Texte, die Lehrreden, und pflegte manche Freundschaft mit Zen-Schülern und Meistern des Zen. In dem Buch, das du gerade erwähnt hast, habe ich eine dieser Begegnungen geschildert. 1984 in San Francisco hatte ich ein Treffen mit einem Zen-Meister. Ich fragte ihn, wie seine Schüler den inneren Weg beginnen. „Wir achten auf das, was uns am nächsten ist, nämlich auf das Atmen“, antwortete er mir. Mir kam bei dieser Antwort ein kleiner Geistesblitz und ich erwiderte: „Wenn sie ihre Aufmerksamkeit auf das Atmen richten, dann ist diese Aufmerksamkeit ihnen näher als das Atmen.“ Wir lächelten uns an und verabschiedeten uns voneinander.

Bei mir war das der Anfang eines Übungsweges, dessen erstes Zwischenergebnis ich in meinem Buch Aufmerksamkeit und Hingabe vorgelegt habe. Ja, Zen heißt für mich natürlich auch, dass nur über das gesprochen wird, was ich wirklich erfahren, erlebt habe.

 

Georg, wir wollten noch auf Deine berufliche Laufbahn zu sprechen kommen. Wie ist die eigentlich verlaufen?

 Da kann ich mich kurz fassen. Ich hatte ja nur einen regulären Arbeitsplatz in meinem Leben. Nach dem Krieg stellte sich für mich die Frage nach einem Studium. Ich hätte gerne bei Kerenyi studiert, aber der war weg. Bei denen, die geblieben waren, konnte ich als Kerenyi-Schüler nicht mehr viel lernen, so dass ich dann in die naturwissenschaftliche Richtung wechselte. Ich studierte Chemie – und zwar mit dem Ausruf: Das hast du noch nicht probiert! Nach dem Studium war ich dann 30 Jahre lang als Hochschullehrer am Institut für Physikalische Chemie an der Polytechnischen Universität tätig. Im Ergebnis meines beruflichen Tuns sind eine Hand voll Patente, wissenschaftliche Aufsätze und Lehrbücher entstanden. 1978 wurde ich Professor und drei Jahre später habe ich mich pensionieren lassen.

Zwischenzeitlich hatte ich noch in Italien und am Max-Planck-Institut für Strömungsforschung in Göttingen Forschung betrieben. Ich halte es seither für meine Lebensaufgabe, Grundlegendes zur Geisteswissenschaft beizutragen, wobei mein Hauptgegenstand diesbezüglich die menschliche Aufmerksamkeit oder Bewusstheit ist, um deren Ursprung und Steigerung es mir geht. In den letzten 15 Jahren kam das Interesse für die spirituelle Anthropologie des Kleinkindes und der Menschen mit geistiger „Behinderung“ hinzu, was 1995 zur Gründung der Internationalen Logos-Stiftung geführt hat. Für mich besteht das bedeutendste Geschehen derzeit darin, dass sich in wachsender Zahl die Kinder unter uns verkörpern, die ich „Sternkinder“ nenne. Sie finden hier nicht den ihnen angemessenen Umgang, weil die Erwachsenen-Welt ein starres Bild davon entwickelt hat, wie das ideale Kind sein soll.

 

Wie Du schreibst, Georg, ist die Aufmerksamkeit für Dich „unsere zentrale geistige Fähigkeit, die sich selbst begegnet und erfährt – und in dieser Erfahrung erwacht der stets gegenwärtig Zeuge zum Bewusstsein seiner selbst: zum Selbst.“ Was mich interessiert an dieser Stelle, ist noch einmal eine Unterscheidung. Wir können ja, wenn ich Dich richtig verstehe, die gelebte Aufmerksamkeit als Möglichkeit einer lebensweltlichen Orientierung aus dem Sehen und Verstehen heraus betrachten. Geht dann alles in Richtung „der Alltag als Übung“? Wie würdest Du da das stufenweise „Erleben des Übersinnlichen“, das was im Zen auf die Seinserfahrung des „Satori“ hinausläuft, einordnen?

Ich habe unlängst einen wunderbaren Text bei Steiner gefunden, der für mich sehr wichtig ist in diesem Zusammenhang. Hier, ich habe mir die betreffende Passage aus dem Vortrag vom 6. Mai 1918 herausgeschrieben. Da heißt es: „Zunächst eine Kardinalerfahrung. Man kann nicht vom Morgen bis zum Abend Geistesforscher sein. Das Hineinschauen in die Geisteswelt ist an gewisse Zeiten gebunden; man weiß Anfang und Ende des Zustandes, in dem die Seele in die geistige Welt eindringt. In diesem Zustand ist die Seele fähig, durch eigene Kraft vom Eindruck der äußeren Sinne vollständig abzusehen, so dass von all dem, wobei die äußeren Sinne Farben sehen, Töne hören, nichts vorhanden ist. Gerade durch dieses Hinschauen auf das Nichts geht die Wahrnehmung für die Geisteswelt hervor.“ Ich sage immer, der Eingeweihte ist nicht Tag und Nacht eingeweiht. Beim Zähneputzen ist er es beispielsweise nicht. Es geht dabei nämlich nicht um einen Dauerzustand. Es hängt alles von der Intensität der Aufmerksamkeit ab, was man erfährt. Wenn das Gewahrsein wirklich erleuchtet ist, ist das ein Erlebnis, was gar nicht missverstanden werden kann. Ein derartiges Erleben wird man jedoch im Regelfall nur haben, wenn man sich in die Meditation begibt.

 

Und im Berufsleben, in der Schule, auf der Straße…

 …natürlich schließt das nicht aus, dass wir unseren konkreten Alltag mit Übungselementen durchsetzen. In meinem letzten Buch Licht und Freiheit rege ich zum Beispiel eine Grundübung an, die, unabhängig von anderen Übungen, täglich gemacht werden sollte: Wir reagieren ja zumeist automatisch. Uns geschieht etwas, und wir antworten darauf, ohne nachzudenken oder abzuwägen, allein aus unseren vorgefassten Meinungen – als handelten wir in einer Kausalkette. Es hilft uns, wenn wir eine kleine Pause einlegen zwischen dem, was passiert ist, und unserer Reaktion darauf. Als würden wir zu uns selber innerlich sagen: „Einen Moment bitte.“ Es ist diese Zeitverzögerung, dieser eine Augenblick, der die Kausalkette aufbricht. Hier entsteht ein Freiraum für einen anderen Anfang. Von da her kann eine Entwicklung einsetzen, die das Bewusstsein über Zwischenschritte, die ich beschrieben habe, zu der Erfahrung der formfreien Aufmerksamkeit führt. Ich war vor kurzem bei einem Freund in Israel zu Besuch, der zwei jüngere Töchter hat. Mit denen habe ich diese Übung durchgeführt. Nach drei Tagen schon zeigte sich im Verhalten der Töchter eine Änderung. Es ist eine wirksame Sache und gar nicht kompliziert.

 

Georg, ich habe Dich heute für die info3-Leserschaft bis Mitternacht strapaziert. Ich danke Dir herzlich.