Gemeinschaft

Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.
Matthäus 18,20

Das Feiern der Jahresfeste und die Durchführung der damit verbundenen Zeremonien waren früher ein Mittel, das Leben in der Gemeinschaft ein Stück aus dem alltäglichen Einerlei herauszuheben. Das kollektive Erleben ließ automatisch die egoistischen Interessen zurücktreten und dafür ein starkes und tragfähiges Gemeinschaftsgefühl entstehen, das erlebbar wie von „oben“ gespeist wurde.

Auch heute gibt es solche Erfahrungen – z.B. beim gemeinsamen Erleben von Kunst. Oft verlaufen Begegnungen in Gemeinschaften aber auch sehr oberflächlich; Gespräche kreisen ausschließlich um die ganz alltäglichen Belange. Tiefere Themen werden vielleicht wegen der oft erfahrenen Unmöglichkeit, zu „Lösungen“ zu kommen, gar nicht erst aufgegriffen. Ein Grund mag sein, dass die ersehnten Lösungen nicht rationaler Art sind, sondern ähnlich wie früher von „oben“ erwartet werden müssen – aus einer nicht näher zu bestimmenden Sphäre, die allenfalls erahnbar ist.

Das Üben in der Gruppe ist eine konkrete Möglichkeit, im Erleben der Gemeinschaft die Erfahrung einer Art von „höherer Verbundenheit“ zu entwickeln.

Aus „Meditation und Gemeinschaft. Geoff Swaebe im Gespräch mit Georg Kühlewind“, in Das Goetheanum, Wochenschrift für Anthroposophie, 29/2002, S.209, ebenso alle weiteren Zitate:

Wie würde sich eine solche Gemeinschaft von der sonst üblichen unterscheiden?

Im Alltagsleben haben wir Vereinigun­gen, Parteien, Klubs und andere Arten von Gruppen, die durch gemeinsame Interessen zusammengehalten werden, die aber keine echten Gemeinschaften sind. Eine wirkliche Gemeinschaft ist immer eine geistige Gemeinschaft, die nicht auf unserem Alltagsbewußtsein und auf unserem persönlichen Verstand gegründet sein kann. Sie kann nur dann entstehen, wenn sich unser Bewußtsein über das Alltagsdenken, das uns voneinander trennt, hinaushebt. Religiöse Ge­meinschaften basieren nie auf verstan­desgebundenem Denken; sie sind auf etwas Höherem in unserem geistigen Wesen gegründet.

In der Anthroposophischen Bewegung war es lange Zeit nicht üblich, über den persönlichen Schulungsweg zu sprechen (s. Die Übungen). Noch viel weniger war vorstellbar, zusammen in Gruppen zu meditieren. Meditation war dem „stillen Kämmerlein“ vorbehalten, obwohl Steiner offenbar nie davon abgeraten hat, auch in Gruppen zu meditieren.

Hat Steiner vor Gruppenmeditations­arbeit gewarnt?

Nicht, daß ich wüßte. Er benutzte und empfahl Gruppenmeditation, obwohl er diese Bezeichnung nicht brauchte. Die Texte der sogenannten Ersten Klasse, die er 1924 gab, sind fast vollständig meditativ und bedürfen eines meditativen Zuhörens, um sie richtig zu hören. Der richtige Name dafür ist „geführte Meditation“, das heißt, jemand spricht, während die ande­ren dem Gesprochenen auf meditative Weise folgen. Das ist Gruppenmeditation.

Spätestens mit der gesellschaftlichen Wandlung in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts gewannen auch viele östliche Lehren und Meditationspraktiken an Einfluss, die gerade in der jungen Generation großen Anklang fanden. In östlichen Praktiken ist die Meditation in Gruppen von jeher fest in der Tradition verankert.

Georg Kühlewind gehörte zu den Pionieren innerhalb der anthroposophischen Bewegung, die mit dem Tabu des „stillen Kämmerleins“ zuerst gebrochen haben. Er erkannte die Bedeutung des gemeinsamen Übens und Meditierens auch für die anthroposophische Praxis und begann in den achtziger Jahren, selbst solche Gruppen anzuleiten. Das Gemeinschaftswesen innerhalb der anthroposophischen Bewegung wurde damit um ein wesentliches Element bereichert und konkretisiert.

Beim gemeinsamen Üben oder Meditieren ist es einerseits schwerer, sich hinter einer Fassade zu verstecken, die z.B. in reinen Gesprächskreisen leicht durch die „abschirmende“ Wirkung der Alltagssprache entstehen kann, andererseits wird erfahrbar, dass es gar nicht nötig ist, sich persönlich durch sprachliche Erklärungen zu „outen“. Die Qualität der Begegnung entsteht auf andere Weise, etwa, indem durch die Übung oder Meditation ein gemeinsamer Bewusstseinsort aufgesucht wird.

Wir leben heute im Bewußtsein eines starken Getrenntseins voneinander. Können Konzentrationsübungen und Meditation eine Brücke bilden?

Ja, und zwar auf zweierlei Weise. Bei der Konzentration und noch stärker in der Meditation wird unser Bewußtsein frei von der physischen Unterstützung durch das Gehirn. Bei diesem Freiwer­den heben wir unser Bewußtsein in eine gemeinsame Sphäre. Dadurch wird das Ich-Gefühl, der Egoismus, der uns von­einander, von der geistigen Welt und von der Natur trennt, schwächer. Medi­tieren wir zusammen mit anderen in einem Raum, so hilft uns dies, über die Sinneseindrücke hinaus zu gelangen und uns anfänglich gegenseitig als geistige Wesen zu erfassen. Die Person neben mir als geistiges Wesen zu erfahren, ist meiner Meinung nach der einzige Weg der Gemeinschaftsbildung heute, ohne die Individualität aufzugeben.

… Indem wir gemeinsam üben, arbeiten wir an der Überwindung dessen, was ich als „falsches individuelles Streben“ bezeichnen möchte. Zuerst stört uns die Anwesenheit der anderen, eben wegen dieser Art Egoismus. Haben wir aber diese Phase des Gestörtseins überwun­den, so erwacht nach meiner Erfahrung unser Sinn für eine gegenseitige Unter­stützung. Alle, mit denen ich arbeite, berichten, daß Konzentration und Me­ditation in der Gruppe viel leichter seien als allein. Dies brachte mich auf den Gedanken, daß die geistige Welt den Menschen, die zusammenarbeiten, mehr Hilfe gewährt als jenen, die sich allein bemühen. Auch Steiner weist auf dieses Phänomen hin.