Autobiographische Notiz aus dem Jahr 1984, geschrieben zu dem Buch ‚Bewusstseinsstufen‘
„Zuerst interessierte mich die Psychoanalyse, Jung, die Geschichte und Kultur verschiedener Religionen, damals war ich fünfzehn Jahre alt. Mit siebzehn wurde ich der Schüler von Károly Kerényi. Auf seinen Einfluss hin wollte ich Klassischer Philologe werden und Lateinisch und Griechisch lernen. Freud und Jung überzeugten mich, dass das Leben rationell nicht zu verstehen ist. Ich studierte Ökonomie. Ich versuchte jeden Brauch, jede Tradition und Konvention aus mir zu löschen. Mit Erfolg. Was blieb: die Wüste. ( Als ich fünf Jahre alt war, hatte ich ein starkes Ich-Erlebnis, so eines wie Jean Paul hatte, über das Rudolf Steiner in seinem Werk Theosophie: Einführung in die übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung schrieb.)
Mit achtzehn Jahren begegnete ich erstmals der Anthroposophie. Ich spürte folgendes: „Interessant, aber das weiß ich schon alles, das lebt alles in mir.“ Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zum zweiten Treffen durch die Werke Wahrheit und Wissenschaft und Goethes Weltanschauung von Rudolf Steiner. Im folgenden wirkten in Hamburg die Vorträge über Das Johannes-Evangelium auf mich. Zehn Jahre lang las ich ein Buch nach dem anderen. Dann spürte ich, dass dies völlig vergeblich ist: ich komme auf dem Weg der inneren Arbeit (Übungen) nicht weiter, es war, als würde das bisher angesammelte Wissen mich überwuchten – und es war wirklich so!
An diesen Punkt angekommen habe ich mit der vollkommenen Anthroposophie beinahe abgerechnet, als ich einen wichtigen Traum hatte und mir ein Buch von Rudolf Steiner einfiel, dass ich bis zu jenem Zeitpunkt nicht verstanden hatte – Die Philosophie der Freiheit. So begann ich dieses Werk bzw. andere erkenntnistheoretische Bücher von Steiner zu studieren. Ich wollte diesen Büchern „eine letzte Chance“ geben. Ich wollte sie streng in sich selber verstehen, ohne daneben andere esoterische Werke zu lesen. Ungefähr ein halbes Jahr später wusste ich, welche Richtung ich wählen muss. Ich sah die Fehler und Missverständnisse (die ich als Verstehen gedacht habe) die ich beging. Ich bin darauf gekommen, dass die Stufe des wahren Verständnisses nicht die Stufe ist, die auch in anderen Wissenschaften erreicht wird, sondern wenigstens diejenige eines lebendigen, erfahrbaren Denkens; nicht die Stufe des Gedachten, sondern der Prozess des Denkens selbst. Von diesem Moment an (ungefähr 1958) trat ich auf den Weg der inneren Schulung. Im Jahre 1969 traf ich den italienischen anthroposophischen Denker Massimo Scaligero. In Wirklichkeit fand das richtige und bedeutungsvolle Treffen nicht persönlich statt, sondern durch seine Bücher nach einem persönlichen Treffen. Aus dem Treffen entwickelte sich eine tiefe und inspirierende Freundschaft, obwohl wir uns in mehreren Fragen nicht einig waren. Jedoch in den Fragen des inneren Weges und der Erkenntnis waren wir uns vollkommen einig.
Ab dem Jahre 1965 fing ich an, mit einer Gruppe zu arbeiten und ab 1966 fing ich an in Österreich, in der Schweiz und in Deutschland Vorträge zu halten. ( Seit dem im Jahre 1984 geschriebenen Lebenslauf hielt er außer den deutschsprachigen Ländern in Ungarn, in Frankreich, in England, in den Niederlanden, in Polen, in Slowenien, in Italien, in Spanien, in Portugal, in Jugoslawien, in Rumänien, in Russland, in Norwegen, in Finnland, in Georgien, in Australien, in Neuseeland, in den Vereinigten Staaten, in Kanada, in Mexiko und auf den Philippinen Vorträge.)
Ich muss eine weitere, für mich wichtige Freundschaft erwähnen. Im Jahre 1979 lernte ich per Brief die ausgezeichnete französische Anthroposophin, Mme S. Rihouet-Coroze kennen. Unsere Bekanntschaft begann, als sie sich mit achtundachtzig Jahren entschloss, mein Buch Die Erkenntnis des Logos ins Französische zu übersetzen. Unsere Freundschaft auf Erden dauerte nur zwei Jahre, sie starb im Jahre 1982.
In der Anthroposophie interessierten mich von Anfang an schon die Fragen im Zusammenhang mit dem Bewusstsein. Das führte sehr schnell zur Idee des Logos. Seit zwanzig-zweiundzwanzig Jahren ist der Prolog des Johannes-Evangeliums mein Hauptthema, meine Bücher stehen auch alle mit diesem Thema im Zusammenhang.
Nach dem Weltkrieg musste ich etwas lernen, aber ich sah nicht klar, was ich wählen sollte. Ich suchte solche Themen, mit denen ich mich bis dahin überhaupt nicht beschäftigte. So wählte ich die Naturwissenschaften und innerhalb den Naturwissenschaften die Chemie. Ich wurde Physiker-Chemiker und lehrte dies dreißig Jahre and der Technischen Universität – hauptsächlich Kolloidchemie. Ich machte auf den Gebieten Absorption, katalytische Prozesse und Chemie der Oberflächenschicht Untersuchungen. Einige Erfindungen stammen auch von mir.
Mit siebenundfünfzig Jahren wurde ich Pensionär. Derzeit arbeite ich zumeist auf sprachwissenschaftlichen, psychologischen und auf erkenntnistheoretischen Gebieten. Ich denke, dass diese die bezeichnenden Wissenschaften für die Bewusstseinsseele sind. Ich freue mich, dass ich Naturwissenschaften lernen durfte. Dadurch können wir uns das wissenschaftliche Denken aneignen, welches wir bei der Ausübung der wahren Geisteswissenschaften selbstverständlich verwenden müssen. Die von Steiner aufgezeichnete Geisteswissenschaft wartet noch auf solche Wissenschaftler, die die Wissenschaft auf höherem Niveau ausüben können als in den schon bekannten Wissenschaften. Ich empfinde, dass es meine Aufgabe im Leben ist, die Grundlagen dieser neuen Wissenschaft weiterzugeben.
Als ich jung war, lernte ich Klavier spielen und wollte Musiker werden, jedoch blieb das nur eine Sehnsucht. Mein herrlichstes musikalisches Erlebnis ist Kathleen Ferrier singen zu hören, obwohl ich sie leider nie persönlich hörte. Der wichtigste Komponist ist für mich neben den klassischen und romantischen Komponisten Béla Bartók. Für mich stellt er die Musik der Bewusstseinsseele dar. Von den Schriftstellern lernte ich viel von Aldous Huxley – vielleicht auch so etwas, was er nicht lehren wollte – auf jeden Fall stand er mir sehr nahe. Unter den Dichtern liebe ich Hölderlin, Rilke und Celin am meisten, und Dante, dessen Werke lesend ich Italienisch lernte und nach Rom kam, wo ich Scaligero traf. Im Jahre 1967 lernte ich den Zen-Buddhismus kennen, der mein Leben stark beeinflusste. Ich glaube, die Anthroposophen könnten von dem uralten und japanischen Zen viel lernen. Jedoch habe ich über den in Amerika und Europa heute geübten Zen eine andere Meinung.
Zum Schluss erlauben Sie mir weitere zwei Schriftsteller, die auf mich gewirkt haben, zu erwähnen: Tolkien und Michael Ende, den ich auch persönlich kannte. Natürlich las ich alles, was ein suchender Mensch lesen könnte: Philosophie, esoterische Traditionen, Sprachwissenschaft, Mythologien, Ethnologie, Religionsgeschichte usw. – aber ich glaube nicht, dass irgendetwas Einfluss darauf hatte, wie ich heute bin.
Weiteres? Das ist die größte und wichtigste Frage, und genau das ist es, was ich nicht beantworten kann. Beruhigend ist jedoch, dass ich damit nicht allein bin.
Ein Vogelgesang auf dem Fensterbrett, der Glanz des Schnees im Garten, das Meer an einem stürmischen Morgen, die Stimme eines Habichts, oder das lächelnde Gesicht eines geliebten Menschen, wenn eine Hand dich streichelt; ja, vielleicht haben diese „kleinen“ Sachen mich viel mehr beeinflusst, als dass ich das jemals beschreiben könnte. Ich bitte Sie, meine lieben Leser, soviel soll Ihnen reichen. Ich bedanke mich für Ihr Interesse.
Georg Kühlewind
13. März 1984