Schauen der Idee

Die zweite Stufe der Konzentration entsteht in einem lückenlosen Übergang aus der ersten. Wenn sich nämlich die Möglichkeit er­gibt, den Kreis der Gedanken zu verkleinern, dann kann man be­wußt nachhelfen. Man macht aus dem Gegenstand der Konzen­tration eine reine Idee oder einen reinen Begriff, das heißt einen Begriff, der keine Vorstellungs- oder Wahrnehmungselemente ent­hält, sondern das »Gemeinsame« ist, woran und wodurch wir »erkennen«, daß alle entsprechenden individuellen Wahrnehmungs­objekte zu diesem Begriff gehören. Nehmen wir z. B. als Thema für die erste Stufe der Konzentration ein Trinkglas, dann würde die zweite Stufe damit beginnen, daß wir denkend bzw. vorstellend viele mögliche Ausführungen des Glases vor uns hinstellen, vom Kelch bis zum Likörglas etwa, um dann das Gemeinsame aller dieser einzelnen »Exemplare« zu erfassen. Nur dieses Gemeinsame nämlich gibt uns die Berechtigung, all die verschiedenen Exemplare trotz ihrer Verschiedenartigkeit doch jeweils als »Glas« zu bezeichnen. Eigentlich haben wir diesen Begriff oder diese Idee alle einmal in unserer Kindheit unbewußt erlebt. Jetzt kann dies bewußt gesche­hen. Diese Idee enthält keine Wahrnehmungselemente; denn die gehören den einzelnen Gläsern an.

Nun wird diese reine Idee zum Thema der Konzentration. Es ist selbstverständlich, daß sie zunächst durch Wort-Denken gebildet wird, aber als Idee ist sie kein »Wörtliches« mehr. Eher ist sie Bild, aber keines, das einer sinnlichen Wahrnehmung ähnlich wäre. Idee und Bild sind auf dieser Stufe eins, wie sie ursprünglich eins waren, nämlich beim ersten Hervorbringen, beim ersten Schaffen eines Glases. Als Intuition waren Begriff und Bild, Idee und Vorstellung ungeschieden. Ebenso ist es· bei allen ursprünglichen, grundlegen­den »Erfindungen«, auch bei den Erkenntnis-Intuitionen der Kinder und manchmal der Erwachsenen.

Die so gewonnene Idee hat als Thema der Konzentration zwei wichtige Eigenschaften. Die eine ist, daß sie für das Denken »durch­sichtig« ist wie eine mathematische Formel oder eine geometrische Figur. Eine Wahrnehmungs-Vorstellung (das einzelne Glas) ist nie ganz durchschaubar für das Denken – deshalb ist sie Wahrnehmung und kein Begriff, keine Idee. Eine Vorstellung »verdeckt« eben des­halb den Denkprozeß. Eine reine Idee »ist« dieser Denkprozeß selbst. – Die zweite Eigenschaft dieser Idee ist, daß sie nie »fertig« wird, es fällt kein »Totes« ab. Nur indem dieses Ideenbild fortwährend produziert wird, ist es im Bewußtsein da. Die Idee existiert nur in dem Prozeß ihrer ursprünglichen Erzeugung. Ganz anders ist die Vorstellung gegeben. Diese ruft man als Erinnerungsbild in das Be­wußtsein und kann sie dann betrachten. Dazu braucht man nicht die oben erwähnte intensive Aktivität, wie sie für das Hervorbringen und Produzieren einer Idee notwendig ist. Die reine Idee ist immer ein Fließen, ein Strömen des Denkens. Sie ist ein Strömendes wie das Licht oder die Musik. Deshalb kann man sagen: das Thema und das Denken sind eins geworden. Es existiert das Thema nicht außerhalb des Denkens. Indem man sich auf das Thema konzentriert, schaut man zugleich auf die eigene Denktätigkeit.

Man soll sich durchaus nur auf das Thema konzentrieren. Der Gedanke »jetzt beobachte ich meine Denktätigkeit« darf nicht auf­ kommen, denn sonst ist es kein Denken des Themas mehr. Folglich wäre nichts mehr da, was man beobachten könnte. Es geht einem mit der Zeit von selbst auf, daß dieses Konzentrieren zugleich die Erfahrung, das Erleben des Denkvorganges ist. »Beobachtung« ist es nur in einem uneigentlichen Sinne; es ist nicht eine Beobachtung von außen her, kein Gegenüberstehen. Das Thema und das Denken selbst sind kein »Gegenstand«. Es ist ein Erleben des gegenwärtigen Denkens und zugleich die Geburt des eigenen wahren Ich oder des eigenen geistigen Selbstes: des Geistselbstes. Denn derjenige, der den eigenen Denkvorgang zu erleben, zu erfahren vermag, ist unabhängig von diesem Denkvorgang da. Dieses Bewußtsein stützt sich nicht auf das Denken, auf das Gedachte (»ich denke, also bin ich«), sondern kann neben dem Denken bestehen. Das gewöhnliche Bewußtsein (Ego, Alltags-Ich) lebt von des Denkens Gnaden; das jetzt erlangte Bewußtsein ist die Quelle des Denkens, das wahre Ich-bin.

In der Übung der zweiten Stufe kann man im weiteren Verlauf ein neues Thema nehmen, z. B. den reinen Begriff des Dreiecks, des Kreises. Am Anfang ist es jedoch besser, wenn man dasjenige Thema »sinnlichkeitsfrei« macht, das man der Übung der ersten Stufe zugrunde gelegt hat. Denn so kann die Kraft, mit der man die Vorstellungen und Gedanken in der ersten Stufe gebildet hat, in der zweiten metamorphosiert weiterleben.

Das Erleben des Denkens führt zur Erfahrung des sogenannten lebendigen Denkens. Das ist ein Vor-Gedankliches, eine Sphäre, aus der das Gedachte stammt. Es ist zu vergleichen mit der Flüssigkeit, die noch in gelöster Form das Feste, das Später-sich-Kristallisierende enthält. Diese Sphäre zu erleben, wenigstens ihr nahe zu kommen, ist grundwichtig, denn sie ist die erste übersinnlich erfahrbare, die Sphäre des Ätherischen. Man durchschaut, daß diese nichts Räum­liches, nichts Stoffiich-Substantielles ist. Es ist ein Sein, das dem Bewußtsein vorher unbekannt war, ihm aber nun eine innere, absolute Sicherheit gibt. Ein erschütterndes, beglückendes Erleben, wobei man guttut, das Erschütternde und Beglückende während der Übung nicht erleben, nicht genießen oder auch nur bemerken zu wollen, sondern die Übung unentwegt weiterzuführen.

Vom Anfang der ersten Stufe bis zum Ende der zweiten Stufe ist die Aufgabe immer nur eine einzige und dieselbe: sich zu konzen­trieren. Alles andere kommt eigentlich von selbst, auch die Möglichkeit der Fortsetzung über die zweite Stufe der Konzentration hinaus ergibt sich.

Es ist klar, daß die zweite Stufe gegenüber Ablenkungen und Abschweifungen noch anfälliger ist als die erste, weil in ihr das Thema nur innerhalb der eigenen Tätigkeit Bestand hat. Die Anlehnung an etwas Daseiendes hört auf. Deshalb muß das Konzentrieren, das Vermeiden der Ablenkungen in der ersten Stufe geübt und verstärkt werden.

Die zweite Stufe wirkt indirekt auf das ganze Seelenleben. Mit dem Geborenwerden (zum Bewußtsein-Erwachen) des wahren Selbstes nämlich wird das Ego-Gefühl immer überflüssiger. Das Gefühl wird frei. Es wird wieder erkennend. Es beginnt zu fühlen, wie das Sehen sieht. – Das Wollen ist schon in der ersten Stufe stark in die Übung miteinbezogen, jetzt erfährt es eine weitere Reinigung. Der Eigen-Wille wird überflüssig, denn das Ich braucht nichts, um sich zu behaupten: es ist, d h. »Ich bin«; wogegen das Ego eigentlich nur aus dem Sich-Wollen, Sich-Fühlen heraus sein Dasein, sein Bewußtsein behauptet. Das Ich behauptet sich nicht, ja erkennt sich nicht (wer sollte wen erkennen?), es ist schlechthin. Erkennen und Sein fallen in ihm zusammen. Es ist die absolute Ruhe und zugleich die allergrößte Aktivität. Es denkt nicht, fühlt nicht, will nicht; es ist einfach da, nicht mehr, nicht weniger. Deshalb wird es das geistige Grunderlebnis genannt.

Wenn dieselbe Gebärde, Haltung, Einstellung, die in der Konzen­tration erreicht wurde, auf die Wahrnehmungswelt angewandt wird, kommt man zur reinen Wahrnehmung oder zu der Goethe­schen anschauenden Urteilskraft. Das Begriffliche der Wahrneh­mungsweIt bekommt man durch sie über die Wahrnehmung, nicht über das Denken. Das gewöhnliche Denken schweigt. Das lebendige Denken ist aber in voller Bereitschaft, ist gegenwärtig. Es ist das kosmische (nicht-subjektive) Denken, das Wesen der Wahrneh­mungsweIt. Es ist die Realität der Welt.
(Zur reinen Wahrnehmung führen die von R. Steiner angegebenen „Wahrnehmungsübungen“ u.a. im Buche „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten“, Dornach 1972 (GA 10))

Schon in der zweiten Stufe der Konzentration kommt man nach und nach an das unmittelbare Erkennen heran. Gewöhnlich hat man alles Erkennen durch Denken, Vorstellen, Wahrnehmen vermittelt. Es beruht aber alles Erkennen letzten Endes auf der Unmittelbar­keit, es ist ein Innewerden, ein Verstehen ohne Worte oder Begriffe, ohne Wissen. Und das ist der Ort der Meditation.
(s. zu dem angeführten Übungsweg: R. Steiner: Anweisungen für eine esoterische Schulung. Dornach 1973 (GA 245), 1. Kap.; Die Stufen der höheren Erkenntnis, Dornach 1959 (GA 12), 1. Kap.; Die Geheimwissenschaft im Umriß. Dornach 1968 (GA 13), S. 299 ff.; s. außerdem: M.Scaligero: La Logica contra l’Uomo, Rom 1967, 2. Teil, Kap. 4; Yoga Meditation Magie, Rom 1971, 1. Teil 10 und 13)

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