Versöhnlichkeit

Durch die regelmäßige Abwechslung der fünf beschriebenen Übungen bildet sich ein Gleichgewicht in der Seele aus. Unzufrie­denheiten mit der Erscheinung und dem Wesen der Welt schwin­den hin. Eine versöhnliche Stimmung erwacht nach und nach, die das Gegenteil von Gleichgültigkeit ist; vielmehr befähigt sie, sach­lich verbessernd und am Fortschritt der Welt zu arbeiten. Ein ruhiges Verständnis von Dingen eröffnet sich, das früher der Seele verschlossen war. Damit wird eine Duldsamkeit, Toleranz gegen­über Menschen, anderen Wesen und Tatsachen erwachen. Der Übende vermeidet alles Überflüssige, Selbstgefällige, Kritik am Un­vollkommenen, Bösen, Schlechten, versucht diese vielmehr zu begreifen. Er entzieht ihnen nicht die verständnisvolle Anteilnahme, sondern versucht sich in die Lage des anderen zu versetzen, um zu ermitteln, wie ihm zu helfen ist.

Durch die regelmäßige Pflege der 6. Übung kommt die Seele mit einer Kraft in Berührung, die auf etwas wie die Aufmerksamkeit »gerichtet« werden kann. Dadurch baut die Seele ihre Unabhängig­keit vom psychischen Reagieren auf.

Das Reagieren ist kein Element der Gegenwärtigkeit, es entsteht nicht in der Gegenwart des Willens, sondern ist eine ergänzende Bewegung zum sofortigen Vergehen, zum Vergangenheitscharakter der Geschehnisse und Gedanken: ein Zurück-Wirken. Der sich verstärkende Wille, gemäß der 5. Übung, ist gegenwärtig, ein Wille der menschlichen Gegenwart.

Das bedeutet, daß die Empfindsamkeit zu einem die Welt erta­stenden Sinnesorgan entwickelt wird; denn die Natur der richtbaren Kraft ist solcher Art, daß durch ihr Erscheinen der Zusammen­hang hergestellt wird mit alldem, von dem sich die Seele in ihrer egoistischen Empfindsamkeit abgewendet hat, das sie abgewiesen hat, das sie nicht in sich aufnehmen konnte.

Durch die 6. Übung ist der Mensch bestrebt, das Bewußtsein gemäß der Natur der richtbaren Kraft in Wirksamkeit zu bringen. Das Denken wird bereit sein, sich von den konkret scheinenden Kenntnissen zu lösen, sich weiter zu differenzieren und sich in der Richtung von bisher nicht geahnten Zusammenhängen bilden zu lassen, wie diese es erfordern. Es wird bereit sein, sich andauernd aufzulockern und weiterzuweben. Nichts geht ihm verloren, alles wird wertvoll im Denken, nichts geringgeschätzt, nichts zurückge­wiesen. Das Gefühlsleben ändert sich dementsprechend: in dem Maße, wie es unabhängig wird vom psychischen Reagieren, baut es ein neues Sinnesorgansystem auf, durch dessen Empfindlichkeit die Seele auch mit der ihr bisher entfernten Umgebung zusammen­gewoben wird.

Die Seele wirft willentlich die jahrtausendalten Gefühlsgewohn­heiten ab – Eitelkeit, Eifersucht, Rachsucht usw. Es wird durch zähe Arbeit das wirkliche menschliche Lächeln geboren, als die erste Stufe der Weisheit. Die Seele sieht die Welt in neuen Farben – sie nimmt willentlich Teil am Zustandekommen der Dinge, Gescheh­nisse, Tatsachen, und die Früchte dieser Tätigkeit strahlen weit sichtbar ihr reifes Rot aus.

Die Seelenkräfte, die Arten der Seelenverfassung, die durch die sechs »Nebenübungen« herausplastiziert werden, sind wie die Kette in einem Gewebe. Dem Schuß entsprechen die Seelentätigkeiten des Achtgliedrigen Pfades. Für den modernen Menschen wurden diese Übungen durch R. Steiner formuliert. Sie scheinen Verhal­tensweisen nahezulegen, die eigentlich für jeden Kulturmenschen selbstverständlich sind. Ihre strenge Verwirklichung wird aber ohne Übung kaum, heute weniger denn je, gelingen. Die Beschreibun­gen, die der Darstellung R. Steiners folgen, sollen als Skizzen aufgefaßt werden, deren individuelles Gestalten der erste Schritt des Übens ist.

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