Zentrale Übung

Aus Georg Kühlewind, „Wege zu einer fühlenden Wahrnehmung“, überarbeitete Neuausgabe, 2002, Kapitel  „Zentrale Übung“, S. 68, Verlag Freies Geistesleben

Zentrale Übung (3)

Ist durch die einführenden Übungen die denkende, wahrnehmende und vorstellende Aufmerksamkeit zu einer gewissen Stärke gediehen (in Ermangelung eines Maßes kann man nur sagen: Verlaufen die Übungen größtenteils ohne Störungen, und hat man Freude an ihnen), so kann man sich der zentralen Übung zuwenden. Diese besteht darin, dass die Trennung der zwei Phasen des Pendelschlages der wahrnehmenden Aufmerksamkeit nun im Wahrnehmen selber versucht wird, ohne das Vorstellen in Anspruch zu nehmen. Erst schaue ich den Gegenstand an mit der Haltung und dem Empfinden «ich schaue ihn» – die Aufmerksamkeit geht gleichsam von mir aus und hin zum Gegenstand; nach einer 1/4 – 1/2 Minute schließe ich für einen Augenblick die Augen (blinzeln), dann öffne ich sie mit dem Gefühl im Hinschauen «es lässt sich sehen», «es gibt sich», «es spricht sich aus», mit der Haltung, ich bin ganz passiv, gebe Platz für das Angestrahltwerden vom Gegenstand her. Man bleibt 1 – 3 Minuten lang in dieser Phase, dann wechselt man mit einem Blinzeln zurück in die erste Gebärde «ich schaue ihn», mit einer oder zwei Wiederholungen beider Phasen.

Wird diese Übung versucht und erlebt man keinen Unterschied in den zwei Schritten, dann sind Übungen 1 und 2 noch weiter zu pflegen. Sie sind jedenfalls immer die Einführung zu Übung 3. Bemerkt man im Wahrnehmen eine Veränderung im Übergehen zu «es gibt sich», so kann man die Übung wiederholt fortsetzen, um die entsprechenden Bewusstseinsgebärden mehr und mehr zu finden.

Die Übung wurde «zentral» genannt, weil der lange Weg zur Wahrnehmungsmeditation eigentlich mit der zweiten Phase als verlängerte Hingabe im Schweigen der (durch Übung 1 und 2) abgesonderten gedanklichen Tätigkeit beginnt; weiterhin sind von dieser Übung aus eine unbegrenzte Anzahl Variationen zu bilden, von denen einige im Folgenden als Beispiele erwähnt werden.

Die erste Phase der Übung – das bewusste Hinschauen «von mir zum Gegenstand hin» – enthält natürlich als schnelle Oszillation auch die Hingabephase, sonst würde man überhaupt nichts sehen, aber sie prallt sehr schnell vom Gegenstand zurück, und im Bewusstsein erfolgt eine Art wortloses Registrieren; als ob wir im Gespräch den Partner wohl hören würden, aber gleichzeitig in uns unser Urteil, unsere Antwort, Bejahung oder Verneinung zu dem Vernommenen hinzufügen würden. Zunächst ist auch in der Hingabephase «es lässt sich sehen» mehr oder weniger die Rückkehr zum Bei-sich-Sein da, aber der Pendelschlag wird durch die Übung asymmetrisch verlangsamt, sodass die Hingabe stark auf Kosten des anderen Poles verlängert wird. Im späteren lernt man immer länger in der Hingabe zu verbleiben. Das führt oft zu der Versuchung, ganz an diesem Pol zu bleiben und den Pendelschlag zurück in das Bei­ sich-Sein gar nicht ausführen zu wollen: Es ist begreiflicherweise viel «schöner», den Gegenstand sprechen zu lassen. Trotzdem ist es aus zwei Gründen wichtig, von Zeit zu Zeit zu sich zurückzukehren:

a)      Wenn man in das rein aufmerksame, ungestörte, tagwache Bewusstsein nicht zurückkehrt, wird man die Tendenz des Hineinschlafens in den Gegenstand empfinden, und es wird auch das Abdämmern des Bewusstseins mit Genusscharakter eintreten.

b)     Die Übung wird zunächst nur dann erkennend bleiben, wenn man zeitweise auch die Rückkehr übt; auch wegen des Frischbleibens der Erfahrung in der Hingabe. Dieselbe Problematik stellt sich im Hinblick auf die Denk- und Bildmeditation: Wie lange kann man in ihnen verbleiben, ohne dass das Bewusstsein abdämmert? Auch in diesen Übungen tut man gut, zeitweise «zurückzukehren». Man kann genau «wissen», wann das Verweilen in der Hingabe in eine Versuchung des Genießens übergeht mit gleichzeitiger Herabdämmerung des Bewusstseins und wie lange man bewusst oder mit zunehmender Helligkeit in ihr bleiben kann.

Die ersten Erfahrungen in der Hingabephase sind erschütternd oder rührend. Sie werden unterschiedlich beschrieben: Der Stein beginnt zu atmen, zu strahlen, man wird mit Herzklopfen gewahr, dass er ist und dass dieses Sein gleichbedeutend mit seinem Sichtbar-Sein, «Sprechen», Sich-Zeigen ist. Anders ausgedrückt, dass Sein ein lichtes Sein, Erkennbarkeit ist. Man hat das Gefühl, das erste Mal wirklich wahrgenommen zu haben – was ja auch der Realität entspricht. Das echte Staunen, seit den Kinderjahren vergessen, tritt wieder auf. Man kann die Verkürzung des Abstandes zwischen sich und dem Gegenstand bis auf Null erleben, das Hineintauchen in ihn, das Es-Werden, das Aufweichen seiner Grenzen; dass das Sehen nicht im Raume lokalisierbar ist. Das Ertönen oder Sprechen des Gegenstands erfolgt im Fühlen. Es treten Gefühle auf, die völlig unbekannt und keine Eigengefühle sind: Sie gehören zum Objekt, sind charakteristisch für es.

Das erwähnte Paradoxon, dass man umso mehr wahrnimmt, je mehr man sich selbst in der Wahrnehmung «vergisst», wird in dieser Übung in seinem Wie erfahren; in der Hingabe erlebt man mehr und mehr die Identität (des wahren Ich) mit dem Gegenstand; im Bei-sich-Sein kann das formulierende Alltags-Ich darüber berichten, weil es im Zustande und für die Dauer der Hingabe (oder im intuitiven Verstehen in der Denkübung) mit dem wahren Ich identisch ist.

Kennzeichnend für die Erfahrung «es lässt sich sehen» ist, dass sie von den ersten Anfängen an, wo ein Unterschied zum «ich schaue es» spürbar wird, durch ein Fühlen begleitet wird. Dieses Fühlen – kein Selbstfühlen, nichts «Privates», sondern eindeutig den Gegenstand fühlend – wird im Laufe des Übens einerseits stärker, andererseits differenzierter: In der Differenzierung besteht der Fortschritt, darauf zielen die nächsten Übungen; wie in der musikalischen Erziehung das Hören eine Differenzierung erfährt, von der der Anfänger sich zunächst keine Vorstellung bilden kann.

Ein weiteres Charakteristikum der Hingabephase besteht darin, dass der Gegenstand prozesshaft zu werden beginnt: Er «geschieht», «ist» nicht einfach nur. Das zeigt sich manchmal in einer Art Bewegung, z.B. nimmt man ein «Pulsieren» wahr; aber das gemeinte «Geschehen» ist keine räumliche Bewegung, sondern man hat die überzeugende Empfindung, dass das Sein selbst eine fortwährende Aktivität ist, etwa wie man solches im Hinblick auf einen Ton kennt. So beginnt der Gegenstand nun unhörbar zu «tönen», was nichts anderes als sein Existieren bedeutet.

Da die Gegenstände Gestalt und Farbe haben, kann man sich auch an diese hingeben; d.h. man sieht von dem Stein- oder Blatt­ Sein ab, schaut nur auf die Farbe oder Gestalt. Dieser Möglichkeit kann man nachgehen, man vertieft sich in die Farbe, bis sie von der Oberfläche des Gegenstandes «abhebt» und zu «geschehen», sich zu strukturieren beginnt; man sinkt in sie hinein, wird «blau» oder «grün», «schmeckt» oder «riecht» entsprechend, d. h. man beginnt in der Farbe zu fühlen, die Farbe zu fühlen. Oder man kann auch sagen, die Farbe «tönt» auf eine charakteristische Weise. Ebenso ist es möglich, sich in die Gestalt zu vertiefen. Diese kann man auf ähnliche Weise zum «Abheben» bringen, d.h. von dem Gegenstand loslösen und sich in die Flächen hineinschmiegen, in sie hineinschwimmen, sich in sie hineinbewegen in einem fühlenden Auskosten der Bewegung. Man erfährt das elementare Wesen der Bildhauerei. Ganz auf dieselbe Weise kann man sich in andere Einzelheiten des Gegenstandes, in das Muster (Geäder eines Blattes) oder Figuren an der Oberfläche usw. vertiefen. Diese Übungen der Hingabe an Einzelheiten des Gegenstandes sind als berechtigte Vorübungen für das Sich-Versenken in den Gegenstand selbst zu betrachten. Der Stein, die Pflanze, auch das Blatt ist eine Ganzheit und sagt etwas aus, über seine Farbe, sein Muster, seine Gestalt hinaus. Es geht letztlich darum, dieses Fühlen in die Erfahrung zu bringen.

Wenn man die Erfahrungen formuliert, verbalisiert, ist größte Vorsicht am Platz, denn dadurch kann man die Erfahrung selbst beeinträchtigen, wenn die Beschreibung nicht ganz sachgemäß ist, z.B. über das Erfahrene hinausgeht oder gewusste Elemente in sie hineinbaut. Lieber nicht laut formulieren, solange man – durch das erwähnte wortlose Registrieren – darin keine Geschicklichkeit erworben hat. Von der therapeutischen Wirkung des vollen Wahrnehmens kann man sich leicht überzeugen. Man kehrt erfrischt und erholt in den Alltag zurück. Diese Wirkung entsteht dadurch, dass man seine menschliche Natur im Wahrnehmen viel voller auslebt, als man es in der informativen Wahrnehmung tut. Es gehen weniger Qualitäten des Gegenstandes verloren, die sonst einen sich anhäufenden Ballast für das Seelenleben bedeuten.

3a) Wenn Übung 3 sich eingespielt hat, d. h. wenn sich ein bedeutender und wiederholt auftretender Unterschied in der Erfahrung der zwei Phasen der Übung ergibt, dann kann die Übung modifiziert werden. Man übe: «Ich schaue es» – «es lässt sich sehen», dann bilde man (bei geschlossenen Augen) das Vorstellungsbild – «es lässt sich sehen» – Vorstellungsbild usw.; d. h. nach dem ersten «es lässt sich sehen» wechseln wir diese Phase mit «Vorstellen» ab, anstatt mit «ich schaue es». Ob diese Abwandlung der Übung an der Zeit ist, kann daran ermessen werden, ob sich das Vorstellen jetzt nicht auf die begrifflich-bildliche Erinnerung stützt, sondern durch das Fühlen gelenkt wird, das sich in der Hingabephase entwickelt hat. Wie lange dieses Fühlen im Vorstellen beständig ist, hängt von der Intensität der Hingabe bzw. des Fühlens in ihr ab.

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